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Emotionale Krisenintelligenz - Wie wir Krisen verarbeiten

Aktualisiert: 16. Aug. 2023

Ein Beitrag von Thomas Röhrßen

KURZBEITRAG AUF VIDEO


Wir befinden uns im Jahr 3 nach Corona. In der Vergangenheit vor Corona lebten wir in einer Zeit pandemischer Ahnungslosigkeit. Nun leben wir in einer Zeit der epidemiologischen Aufklärung und vielleicht bald im Übergang zu einer Endemie. Die Aufklärung hat erst begonnen und ist – wie der Kampf um Erkenntnisse, Deutungshoheit und Meinungsbildung zeigt – noch lange nicht abgeschlossen.

Sind all die Emotionen angesichts Corona nur sinnlose Begleiterscheinungen? Oder sind sie wichtige Hinweise darauf, in welchem Zustand sich Geist und Psyche gerade befinden und welche Aufgaben beide noch vor sich haben? Kann man Corona mit emotionaler Krisenintelligenz begegnen? Gibt es überhaupt fundierte Erkenntnisse darüber, wie Menschen Krisen verarbeiten?


Die existentielle Bedeutung von Emotionen


Die existentiellen Ängste „vulnerabler Gruppen“ und gefährdeter Unternehmen, der Dauerstress und die Erschöpfungsreaktionen vieler Bürger und der “Beschäftigten in der kritischen Infrastruktur“, unsere Traurigkeit über den Verlust des unbeschwerten oder unversehrten Lebens, der Zorn der „Querdenker und Wutbürger“ angesichts bürokratischer Verordnungswellen und eingeschränkter Freiheitsrechte – in all diesen Zuständen liegt bzw. lag wenig Annahme und Akzeptanz, aber viel Aufruhr und Kampf. Diese Emotionen gehören dazu, sie sind immer schon Teil unserer Existenz und sichern unser Überleben.

Die Wurzeln und Funktionen dieser Emotionen sind in spezifischen Hirnstrukturen und physiologischen Prozessen hinterlegt. Emotionen geben uns Hinweise zu unseren unbefriedigten Bedürfnissen. Sie warnen uns blitzschnell vor Gefahren und treiben uns an. Sie fordern uns, Entscheidungen zu treffen und geben unserem Verhalten eine Richtung. Gefühle zeigen uns, in welcher Lebenslage und Situation wir uns – subjektiv betrachtet – gerade befinden. Dabei sind sie auch Ausdruck unserer Persönlichkeit, unserer Erziehung, Erfahrung und Einstellung.


Die Unternehmensberaterin Ira Rueder (change4success) sieht Emotionen als kraftvolle Treiber des Wandels:


„Wie gelingt Veränderung ohne Emotionen? Genau so gut wie Segeln ohne Wind!“



EMOTIONALE INTELLIGENZ

Im Jahr 1990 stellten die Wissenschaftler John D. Mayer und Peter Salovey zum ersten Mal das Konstrukt der Emotionalen Intelligenz vor. Inzwischen liegen zahlreiche Studien zu diesem Thema vor. Weltweit populär wurde das Konzept durch den Bestseller "EQ- Emotionale Intelligenz" des Psychologen und Wissenschaftsjournalisten Daniel Goleman. Emotionale Intelligenz umfasst 3 Grunddimensionen, die wiederum viele Teilfertigkeiten beinhalten:

  1. Die Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen zuzulassen, zu identifizieren und zu verstehen (Emotionale Wahrnehmung und Verstehen)

  2. Die Fähigkeit, eigene Emotionen angemessen auszudrücken bzw. fremde Emotionen angemessen widerzuspiegeln (Emotionale "Wahrgebung")

  3. Die Fähigkeit, eigene und fremde Emotionen gezielt zu steuern und zu lenken, um Nutzen zu erzeugen, positive Veränderungen herbeizuführen oder Probleme zu lösen (Emotionale Steuerung).

In einschlägigen Studien wurde die Emotionale Intelligenz als Prädikator für schulischen und beruflichem Erfolg sowie für die wahrgenommene Lebensqualität und das psychische Wohlbefinden identifiziert.



EMOTIONALE KRISENINTELLIGENZ


Eine Krise ist immer auch eine Chance. Inzwischen wissen wir, dass eine furchterregende Bedrohung oft auch mit einer günstigen Gelegenheit verbunden werden kann. Zwischen diesen beiden Polen liegt ein emotionaler Verarbeitungsprozess, der immer wieder einem ähnlichen Muster folgt. Der Prozess beginnt mit der Phase der Sorge und endet im Zustand der Akzeptanz und Integration. Schon länger sind in der psychologischen Sterbe- und Trauerforschung (Kübler-Ross 1997) und in Studien zum Change in Unternehmen (z.B. Cevey und Prange 1999) mehrere Stufen der emotionalen Verarbeitung in Veränderungsprozessen identifiziert worden.

Mit dem neuen Begriff der Emotionalen Krisenintelligenz verbinde ich zwei Konzepte: einmal das Konstrukt der Emotionalen Intelligenz sowie andererseits die 7 Phasen des Wandels. Wenn wir beides verbinden, verstehen wir psychische Verarbeitungsprozesse in Krisen besser. Wir schaffen eine Grundlage für emotionale Prozessintelligenz und erfolgreiche Prozessbegleitung im Wandel. Dies gilt aus meiner Sicht gleichermaßen für persönliche, unternehmerische und gesellschaftliche Veränderungen in Krisen.



DIE 7 PHASEN DES WANDELS

Die Emotionale Krisenintelligenz bewährt sich in diesen 7 Phasen des Wandels:


1. Es beginnt mit der Vorahnung einer Bedrohung und das führt zu Sorge. In dieser Phase will der Mensch zwar gern weiter in seiner Komfortzone bleiben, aber er ahnt schon, dass da ein Umbruch bevorsteht. Es gibt schon irritierende Anzeichen und Gerüchte. Eine Form der Abwehr liegt jetzt erst einmal in der Ignoranz. Emotionale Krisenintelligenz in dieser Phase öffnet jetzt aber schon die Pforten der Wahrnehmung für mögliche Anzeichen von Veränderungen und zeigt Interesse ohne Panik und Ignoranz. Mehr ist jetzt nicht möglich, denn häufig ist hier noch nicht entschieden, ob es wirklich zu einer Krise kommt. Die unbewusste Verarbeitung im limbischen System unseres Gehirns aktiviert bereits Prozesse in unserem Körperinneren. Wir nehmen ggf. innere Unruhe wahr. Auch der Körper stellt sich jetzt auf die mögliche Veränderung ein.

2. Wenn das kritische Ereignis nun eintritt oder als solches endlich wahrgenommen wird, reagieren viele Menschen zunächst mit Überraschung bis hin zum Schock, mit Ängstlichkeit bis hin zur Panik. Einige wenige sind sogar wie traumatisiert und gelähmt. Andere verdrängen die Angst, neigen zur Verleugnung und bagatellisieren. Sie versuchen die Lage zu halten und machen weiter wie bisher. Diese Form der Abwehr verdrängt die Angst. Emotionale Krisenintelligenz in dieser Phase läßt einerseits Angst und Unsicherheit zu, konzentriert sich aber auch auf die Selbst-Stabilisierung und -Stärkung,


In dieser Situation spielen die Zentralen Selbstbewertungen (CSE - Core Self Evaluations), die wir an anderer Stelle im Blog vorgestellt haben, eine entscheidende Rolle (: Blog Beitrag: "Wie bewerten Sie sich selbst? Wie hoch ist Ihr CSE-Wert? https://www.roehrssen-consult.de/post/wie-bewerten-sie-sich-selbst-wie-hoch-ist-ihr-cse-wert)


Sieht der von der Krise betroffene Mensch sich nur als Opfer der Krise (externe Kontrollüberzeugung) oder sind ihm eigene Einflussmöglichkeiten noch bewusst (interne Kontrollüberzeugung)? Nimmt der Mensch in der Krise vor allem seine Defizite wahr (mangelnde Selbstwirksamkeitsüberzeugung) oder erkennt er genau die Fähigkeiten und Ressourcen, die ihn erfolgreich durch die Krise bringen (hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung)? Ist der Mensch von Zweifeln, Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängsten geplagt (emotionale Labilität) oder schaut der Mensch im Angesicht der Krise grundsätzlich mit Zuversicht in die Zukunft (emotionale Stabilität)? Hadert der Mensch in der Krise mit sich selbst (geringer Selbstwert) oder hat er weiter eine gute Beziehung zu sich selbst (positiver Selbstwert).



3. In der nächsten Phase von Ärger, Wut oder Kampf bäumt sich der Mensch auf und neigt zum Aktionismus. Einige wenige identifizieren sogar dunkle Mächte als Verursacher der Krise, sind empfänglich für Verschwörungstheorien und suchen Allianzen mit Gleichgesinnten, die ihnen dieses unbedingt bestätigen können. Verharrt der Mensch in diesem Stadium, bleibt es bei blindem Aktionismus oder dauerhaftem Widerstand. Diese Form der Abwehr kämpft aussichtslos gegen notwendige Einsichten. Emotionale Krisenintelligenz läßt jetzt schon Gedanken und Gefühle des Unausweichlichen zu und trifft Vorbereitungen.

4. In der nächsten Phase setzt sich nach und nach empirisch und psychologisch die rationale Einsicht durch, dass sich etwas Grundsätzliches geändert hat oder ändern wird. Frustration und Schmerz machen sich breit. Einige gleiten in die Depression als nächste Form der Abwehr. Sie wollen den Schmerz nicht spüren. Emotionale Krisenintelligenz öffnet sich der schmerzhaften Erkenntnis, das es eben so ist wie es ist, und dass es nie mehr genau so sein wird, wie es war.

5. Der rationalen Einsicht folgt die emotionale Annahme des Unausweichlichen. Das geht nicht ohne Traurigkeit, denn immerhin ist ja der Verlust des gewohnten Lebens zu beklagen. Aber einige verharren jetzt in einem klagenden Zustand sentimentaler oder pathologischer Trauer. Sie wollen nicht abschließen mit der Vergangenheit. Diese Form der Abwehr blickt nur zurück und nicht nach vorn. Die Emotionale Krisenintelligenz geht jetzt in die Phase der "Trauerarbeit", nimmt Abschied, läßt nach und nach das vergangene Leben los und richtet den Blick nach vorn.


6. Nun folgt die Neugier mit einer Öffnung für das Neue. Der Mensch ist jetzt bereit für neue Erfahrungen, Erkenntnisse und Experimente. Er erkundet, entdeckt und erprobt. Manche geraten jetzt noch in eine weitere Form der Abwehr; sie versuchen der Verunsicherung zu entgehen und flüchten sich beim ersten Rückschlag zurück in alte Gewohnheiten. Emotionale Krisenintelligenz akzeptiert den experimentellen und fragilen Zustand, in dem sich das Ich befindet. Emotionale Krisenintelligenz erhält sich das Selbstvertrauen und fällt jetzt nicht vom Glauben an das Neue ab.

7. Endlich entstehen neue Gewissheiten und Gewohnheiten verbunden mit einem tiefen Gefühl von Akzeptanz und Zuversicht im Neuen. Emotionale Krisenintelligenz hat der Krise eine positive Bedeutung abgerungen. Der Mensch fühlt sich wieder ganz sicher. Bis zur nächsten Krise!


Und was nehmen Sie mit aus der Corona-Zeit? Wenn Sie die kritischen Phasen der Krise mehr oder weniger durchschritten haben, dann haben Sie den Virus als Bestandteil des Lebens akzeptiert. Mehr noch: Sie haben neue positive Erkenntnisse für sich aus der Krise gewonnen. Und Sie haben im Verlauf der Krise in Ihrem Leben das eine oder andere verändert, was Sie als persönliche Bereicherung erleben.




FAZIT:

Krisen- und Changemanagement ist für Einzelne, Unternehmen und unsere Gesellschaft also vor allem auch kontinuierliches Emotionsmanagement. Natürlich brauchen Veränderungsprozesse klare Ziele und eine intelligente Prozessarchitektur. Aber wer meint, das Ganze wäre ohne die Achterbahn der Gefühle möglich, der handelt gegen die psychologische Natur des Menschen. Deshalb wird Emotionale Krisenintelligenz zu einer Schlüsselkompetenz im Wandel.




Thomas Röhrßen ist Dipl.- Psychologe, Coach, Leadership-Experte und Unternehmensberater. Er führt seit 1987 Projekte zur Strategie- und Strukturentwicklung, zur Personal- und Kulturentwicklung sowie Führungstrainings und Coaching in Unternehmen durch. Als Leadership Experte hat er ein psychologisch-fundiertes Führungskonzept entwickelt (vgl. Röhrßen/ Stephan. Leadership Performance Krankenhaus. Berlin 2021). Seit 30 Jahren berät er Geschäftsführungen, Vorstände und Aufsichtsräte sowie Führungskräfte der mittleren Führungsebene in unterschiedlichen Branchen.



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